English below
Gerade lese ich ein sehr anregendes
Buch von Jason W. Moore mit dem Titel: Kapitalismus im Lebensnetz. (matthes
& seitz, Berlin 2020) Darin sind ein paar Gedanken zu finden, die sich
eignen, in den Kontext meiner Überlegungen zum Künstlersein im Kapitalismus
gestellt zu werden. Diese Gedanken betreffen zwei Aspekte, zum einen die Idee
der NATUR, wie sie im Kapitalismus entwickelt wurde und zum anderen die Frage
nach dem Verständnis von Arbeit in und außerhalb der Logik des Kapitalismus.
Das Buch von Moore ist eine
akademische Arbeit, die sehr sorgfältig und ausführlich auf die selbst
gestellten Themen eingeht. Ich kann die Thesen nur sehr verkürzt und z.T. durch
meine Linse verzerrt widergeben.
Moores Anliegen ist es, eine
Methode zu entwerfen, mit der man den Dualismus von Natur und Gesellschaft
überwindet und in die Lage versetzt wird, beides miteinander zu denken, statt davon auszugehen, dass die Natur eine
Art Grundlage für die Gesellschaft und den Kapitalismus liefert – eine
Grundlage, die gerade von dieser Weltgesellschaft schwer geschädigt wird. Dabei
macht Moore plausibel, dass der Begriff von Natur, mit dem wir in der Regel
agieren, selbst ein Resultat des kapitalistischen Denkens ist. Im Frühkapitalismus erst wurde die Natur zu
etwas da draußen, zu einem Objekt,
das vom Menschen betrachtet und noch wichtiger, vom Menschen analysiert,
gemessen und dann ausgebeutet bzw. angeeignet werden konnte. Auf der einen
Seite steht der Mensch als so genanntes rationales Wesen und auf der anderen
die Natur, die auf das Messbare reduziert und zur Ware degradiert wird. Der
Mensch, von dem da die Rede ist, entspricht übrigens in dieser Gleichung mehr
oder weniger dem europäischen Mann, denn Frauen, Sklaven und überhaupt Bewohner
anderer Kontinente waren in diesem Denken Teil der NATUR, deren Arbeit dem kapitalistischen
System quasi umsonst zufließen konnte. An dieser Stelle entwickelt Moore eine sehr
originelle und starke These: Der Kapitalismus funktioniert nur dadurch, dass es
aus dem Grenzland des
kapitalistischen Systems einen stetigen Zufluss von Arbeit und Natur – im Sinne
von Rohstoffen und Lebensmitteln – gibt, der nicht angemessen bezahlt wird. Der
Kapitalismus bezahlt diese Rechnungen
nicht und deshalb kann das eigentliche System von Produktion und Lohnarbeit
aufrechterhalten werden. Doch im 21. Jahrhundert sind wir an einem Punkt
angekommen, wo es kein neues Grenzland mehr gibt. Die „Billige Natur“ ist
aufgebraucht, der kapitalistische Vereinnahmungsmechanismus findet kein Futter
mehr, und die zerstörerischen Elemente des Kapitalismus werden zu einer
selbstzerstörerischen Kraft.
Wenn man jetzt aber die
Menschenwelt nicht mehr der Natur gegenüberstehend denken will, sondern sie als
Teil derselben versteht, stellt sich die Aufgabe, einen neuen,
postkapitalistischen Begriff von Natur zu entwerfen, der es uns (vielleicht)
erlaubt, aus dieser bedrohlichen Situation mit blauem Auge herauszukommen und
Gestaltungsmöglichkeiten für eine neue und vielleicht menschenwürdigere Welt zu
gewinnen.
Hier kommt die Künstler*in ins
Spiel, oder genauer gesagt, eine bestimme Idee des Künstlerseins, die nicht die
einzig mögliche darstellt. Im Anschluss an Max Scheler kann behauptet werden,
dass gerade die Künstler sich ein vorkapitalistisches Weltverhältnis bewahrt
haben, dass die Natur nicht als
messbares Material und als Ware versteht, sondern um die Bedeutsamkeit der
Natur (als Relevanz und als Signifikanz) für die Menschen weiß. An diesem
Wissen könnte der Versuch, einen postkapitalistischen Naturbegriff zu formen,
anknüpfen.
Ich plane übrigens gerade ein neues
Format für ein Forschungs-Seminar („meine Lebenswelt“), in dem es darum geht,
ein Weltverhältnis zu finden, zu pflegen und zu schulen, dass die Bedeutsamkeit
der Natur und der Dinge für mich in
den Vordergrund stellt und das Bewusstsein dafür stärkt, wie die Natur, als
Teil meiner Lebenswelt, auf mein Leben wirkt. Das ist ein künstlerisches
Projekt, denn im Grunde geht es um die Suche um ein alltägliches poetisches Verständnis der Welt. Dazu
bald mehr auf stimmfeld.de
In einer weiteren Hinsicht sind die
Überlegungen von Jason Moore für die Frage nach der Selbstpositionierung von
Künstler*innen im Kapitalismus von Belang. Ähnlich wie die Natur ist die Kunst
nämlich ebenfalls vom kapitalistischen System ausgelagert worden. Die Kunst
wurde aus der Mitte des Lebens, wo sie in vorkapitalistischen Gesellschaften
meistens stand, (man denke an die christliche Kunst im Mittelalter oder die
Bedeutung des Theaters für die griechische Antike!) an den Rand gedrängt. Kunst
wurde zum Grenzland. Doch die Arbeit der Kunst konnte nicht so einfach in das
System von Lohnarbeit einerseits und nicht entlohnter Arbeit andererseits
eingefügt werden. Mal steht sie auf der einen, mal auf der anderen Seite. Kunst
scheint nicht richtig ins System zu passen und vielleicht ist es dieser
Widerspenstigkeit zu verdanken, dass sich die Kunst auch nach 500 Jahren
Kapitalismus eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt hat. Und es gibt Gründe zu
hoffen, dass die Kunst deshalb einen vielversprechenden Anknüpfungspunkt
darstellt für eine postkapitalistische Art des Denkens, in der Natur und Kunst
integral verstanden werden.
https://fr.tipeee.com/stimmfeld
english:
I am reading a very
stimulating book by Jason W. Moore entitled: Capitalism in the Web of Life. It
contains a few thoughts that I would like to put into the context of my
reflections on being an artist in capitalism. These thoughts concern two aspects,
on the one hand the idea of NATURE as it was developed under capitalism, and on
the other hand the question of the understanding of work in and outside the logic of capitalism.
Moore's book is an
academic work that deals very carefully and in detail with the topics he has
set himself. I can only present the theses in a very abbreviated form and
partly distorted by my perspective.
Moore's concern is to
devise a method to overcome the dualism of nature
and society and to enable to think
both aspects together, instead of assuming that nature provides a kind of
foundation for society and capitalism - a foundation that is severely damaged
by this world society in particular. In doing so, Moore makes it plausible that
the concept of nature we usually have in mind is itself a result of capitalist
thinking. In early capitalism, nature for the first time became something out there, an object that
could be observed and, more importantly, analysed, measured and then exploited
or appropriated by man. On the one hand there is man as a so-called rational
being and on the other hand nature, which is reduced to the measurable and
degraded to a commodity. Incidentally, in this equation, the human being in
question more or less corresponds to the European male, because women, slaves
and in general inhabitants of other continents were part of NATURE in this way
of thinking. Their work could flow into the capitalist system for virtually
nothing. At this point, Moore develops a very original and strong thesis:
capitalism only functions because there is a steady influx of labour and nature
- in the sense of raw materials and food - from the borderland of the
capitalist system, which is not adequately paid. Capitalism does not pay these
bills and only so the actual system of production and wage labour is
functioning at all. In the 21st century we have reached a point where there is
no longer new borderland. The "cheap nature" is used up, the
capitalist mechanism of appropriation no longer finds futter, and the
destructive elements of capitalism become a self-destructive force.
However, if we now want
to think of the human world no longer as opposed to nature, but as part of it,
the task is to create a new, post-capitalist concept of nature that (perhaps)
allows us to get out of this threatening situation with a black eye and to gain
ideas and possibilities for a new and perhaps more humane world.
This is where the
artist comes into the scenery. Following
Max Scheler, it can be said that it is mainly the artists who have preserved a
pre-capitalist world relationship, which does not understand nature as a
measurable material and as a commodity, but knows about the significance of
nature (as relevance and as meaningfulness) for people. The attempt to form a
post-capitalist concept of nature could tie in with this knowledge.
By the way, I am
currently planning a new format for a research seminar ("my
life-world"), in which the aim is to find, cultivate and train a world
relationship that puts the significance of nature and things in the foreground
for me and strengthens the awareness of how nature, as part of my life-world,
affects my life. This is an artistic project, because basically it is about the
search for an everyday poetic understanding of the world. More on this soon at stimmfeld.de
In a further respect,
Jason Moore's reflections are relevant to the question of the self-positioning
of artists in capitalism. Like nature, art has been outsourced by the
capitalist system. Art has been marginalised from the middle of life, where it
usually stood in pre-capitalist societies (think of Christian art in the Middle
Ages or the importance of theatre for ancient Greece!) Art became a borderland. But the work of art
could not so easily be inserted into the system of paid labour on the one hand
and unpaid labour on the other. Sometimes it stands on one side, sometimes on
the other. Art does not seem to fit properly into the system and perhaps it is
thanks to this reluctance that art has retained a certain independence even
after 500 years of capitalism. And there are reasons to hope that art therefore
represents a promising starting point for a post-capitalist way of thinking in
which nature and art are understood integrally.