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Sonntag, 10. Mai 2020

Rechthaben, Verschwörungen und Kunst


Je länger die Corona-Krise, mit ihren Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der persönlichen Bewegungsfreiheit dauert, um so mehr Ungeduld baut sich verständlicherweise auf. Bahn bricht sich diese Energie zu einem beträchtlichen Teil (aber nicht nur!) in Formen, die mich ziemlich beunruhigen: in Verdächtigungen, Unterstellungen, Anklagen gegen eine wie auch immer geartete Gruppe von Mächtigen, die die momentane Situation entweder für ihre Zwecke nutzen oder gar für ihre Zwecke initiiert haben. Verschwörungstheorien scheinen bis in die ominöse Mitte der Gesellschaft und übrigens auch bis in die Kunstszene durchgesickert zu sein. 
 
Was passiert da gerade? Und was genau beunruhigt mich daran so sehr? 

Ich will versuchen, aus meiner Position zu formulieren, wie eine Antwort auf die beiden Fragen aussehen kann. Meine Position bestimmt sich aus verschiedenen Aspekten. Die wichtigsten in diesem Zusammenhang sind:
-   meine ziemlich radikale Kritik an dem Geist des Kapitalismus, die sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Allerdings geht es mir dabei nicht darum, eine Gruppe von „Bösen“ zu identifizieren, die an allem schuld ist. Der Geist des Kapitalismus hat sich aus einer historischen Konstellation entwickelt und zeigt sich nicht nur in neoliberalen Hirnen!
-   Meine Wertschätzung des Grundgesetzes, insbesondere der Grundrechtsartikel, mit denen ich mich ebenfalls in den letzten Jahren intensiv beschäftigt habe und
-   meine Bestrebungen, so etwas wie eine künstlerische Grundeinstellung für mein Leben zu finden und umzusetzen.

Rechthaben: Ich bin mir darüber bewusst, dass meine fast schon allergische Reaktion auf die Rechthaber und Besserwisser, die zur Zeit durch die Medienlandschaft schwirren, auch damit zu tun hat, dass ich selbst gerne meine Positionen in die Öffentlichkeit sende und gegen das Virus der Rechthaberei nicht ganz immun bin. Doch immerhin versuche ich, bestimmte Fallen zu umgehen. Z.B. indem ich im Modus des Vorschlagens und Anbietens rede und nicht in Behauptungen.

Das Muster der medial verstärkten Besserwisser ist ja nicht, einen Beitrag zu liefern, der helfen möge, die bestmögliche Strategie im Umgang mit einem Problem zu finden. Es geht den Rechthabern einzig darum recht zu haben. Dazu gehört meistens auch die Klage, ihre Meinung würde unterdrückt von „den Medien“, was auch diesmal angesichts der Präsenz dieser Leute auf allen Kanälen schon ziemlich abstrus wirkt. Schlimmer aber ist daran, dass man dieses Muster gut aus den Anfangszeiten der AfD kennt. Die Generation Lucke zeichnete sich dadurch aus, nichts anderes zu wollen, als recht zu haben und sich als Opfer einer Meinungsdiktatur darzustellen. Beides wurde von den rechtspopulistischen Nachfolgern in der AfD dankbar übernommen.
Die Nähe zum Rechtspopulismus zeigt sich auch in einer bestimmten Wissenschaftskritik. Ich bin der Meinung, dass die Wissenschaft im kapitalistischen System eine äußerst problematische Funktion erfüllt, nämlich die Welt so zu formen, dass sie für die kapitalistische Ausbeutungsmaschinerie vorbereitet ist. Trotzdem ist es natürlich klug und richtig, in Situationen wie der momentanen, die aktuellen Erkenntnisse einer Wissenschaft als Richtschnur für das politische Handeln zu betrachten. Dasselbe wird ja zu Recht in der Klimadebatte vehement und bislang relativ erfolglos gefordert. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse anzuzweifeln, weil Wissenschaften per se keine Wahrheiten finden, sondern vorläufige Erkenntnisse formulieren, die durch die weitere Erforschung revidiert werden können, ist die ignorante Politik der Klimakrisenleugner.
In der Coronakrise hat die Politik klüger gehandelt als in der Klimakrise. Sie hat die momentan bestmöglichen Erkenntnisse zur Grundlage für das politische Handeln gemacht. Die (pseudo)-wissenschaftliche Kritik an diesem Vorgehen weigert sich, die gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Politik zu beachten. 

Eine ganz andere Art von Kritik kommt aus der Politik und der Gesellschaft selbst. Immerhin hat der Bundestagspräsident, also der Repräsentant des zweithöchsten Amtes in der Bundesrepublik, die Verhältnismäßigkeit der Einschränkungen in Frage gestellt, und zwar mit Rekurs auf das Grundgesetz! Schäuble hat angemerkt, dass es wenn überhaupt nur ein bedingungsloses Grundrecht im GG gibt, nämlich die Würde des Menschen aus Art.1 GG -  und hat damit bezweifelt, dass der Lebensschutz soweit gehen darf, dass die Würde Schaden nimmt. Unabhängig davon, ob man diesem Argument zustimmen will, ist diese Debatte von einer ganz anderen Art als die, die von Wodarg und Co. angezettelt wurde. Die Aufgabe der Politik, wie aller anderen gesellschaftlichen Kräfte, ist es, die Grundrechte so gegeneinander abzuwägen, dass keines unter die Räder kommt. An dieser Debatte zum Wohle der ganzen Gesellschaft war schon die frühe AfD nicht interessiert, sie wollte nur Recht haben, und es ist für mich sehr beunruhigend zu sehen, wie viele Leute heute diesem Muster zu folgen bereit sind.

Verschwörung: Die Grenzen zwischen Rechthabern und Verschwörungstheoretikern sind zwar fließend, aber Verschwörungstheorien sind in ihrer destruktiven Kraft sehr viel problematischer. Die Muster, nach denen diese Hirngespinste funktionieren, sind ja gut erforscht. Rätselhaft bleibt aber, warum so viele Leute diesen Theorien Glauben schenken.
Meine Vermutung: Der Erfolg der Verschwörungstheorien ist ein Symptom des allumfassenden Gefühls der Unverbundenheit des modernen Menschen mit seiner Welt. Das führt zu einem tiefgreifenden Misstrauen der Welt gegenüber. „Wir wissen ja nicht, was wirklich vorgeht!“ ist der Glaubenssatz, der hier wirksam wird. Und da ist ja auch was dran. (Es ist sicher kein Zufall, dass die erste „erfolgreiche“ Verschwörungstheorie rund um die erste Mondlandung 1969 entstanden ist - die in Filmstudios simuliert worden sei. Das war vielleicht das erste weltweit wahrgenommene Ereignis, bei dem – außerhalb der NASA – niemand mehr die Möglichkeit hatte, das Erfahrene mit der Realität abzugleichen. Niemand hat die Astronauten auf dem Mond begrüßt! Heute ist dieser Realitätsentzug eine alltägliche Erfahrung.) Der kapitalistische Geist hat mit der Digitalisierung einen weiteren Schub von Weltfremdheit ausgelöst, in der das Gefühl von Verbundenheit mit der Welt kaum noch von sich aus auftreten kann. Das Misstrauen, das durch den fehlenden Bezug zur Welt ins Unermessliche gesteigert wird, öffnet die Tore für eine Form von Leichtgläubigkeit, die nach Antworten sucht, um zumindest dieses Misstrauen nicht in Frage stellen zu müssen. Das ist ein Teufelskreis.

Kunst: Hier kommt die Kunst ins Spiel. Natürlich sind auch Künstler*innen nicht davor gefeit, Rechthabern und Verschwörungstheoretikern auf den Leim zu gehen.
Aber Künstler*innen sind zumindest darin geübt, die Verbundenheit zur Welt herzustellen und/oder die fehlende Verbundenheit, mit der wir in dieser Welt umgehen müssen, als solche wahrzunehmen.
Die Unverbundenheit ist ein allgemeines Phänomen. Sie in sich zu erkennen und den Mut haben, sich ihr zu stellen, statt in Antworten zu flüchten, die alles noch schlimmer machen, ist eine Aufgabe, mit der sich Kunstschaffende in der Moderne immer wieder befasst haben. Wie soll man es aushalten, nicht nur nichts zu wissen, sondern auch noch den Bezug zur Welt verloren zu haben, der es ermöglicht, Wissen von Nichtwissen zu trennen? Wie kann ich Weltbezug wieder herstellen? Fragen, auf die als erste Künstler*innen Antworten suchen.